Im Januar 2024 wurde unser DFG-VK Mitglied Johanna Grieger 100 Jahr als. In der ZivilCourage Nr. 2/2023 interviewte sie Rainer Schmid.
Danke Johanna du bist uns ein großes Vorbild.
„Das ist meine Schwester“
Du hast in deiner Jugend den Krieg erlebt. Welche Ereignisse waren entscheidend für dein dann jahr zehntelanges Friedensengagement?
Ich erinnere mich gut, wie 1942 in meiner Schulklasse die Jungen danachfieberten, endlich an die Front zu dürfen, um „unser Vaterland“ zu verteidigen. Bei jedem Motorengeräusch überuns sprangen sie zu den Fenstern und folgten den Flugzeugen sehnsüchtig mit den Augen. Und im Lateinunterricht fragten sie oft: Brauche ich das als Flieger? Später stand dann in den Todesanzeigen der Gefallenen: „Für Führer, Volk und Vaterland. In stolzer Trauer.“ Ende 1944 wurde in meiner ehemaligen Schule, wo ich gerade Abitur gemacht hatte, ein Feldlazarett eingerichtet. Weil ich Ärztin werden wollte, bekam ich ein gestreiftes Kleid, eine weiße Schürze, eine Rotkreuz-Brosche, ein Häubchen und einen Rot-kreuz-Ausweis – und wurde fortan Schwester Johanna genannt. Jeden Tag kamen Flugzeuge von der Front und brachten Verwundete. Im Zeichensaal, jetzt OP, wurden alle operiert, fast nur Amputationen. Auf dem Flur lagen viele Soldaten mit Bauchschüssen; sie stöhnten laut vor Schmerzen. Man gab mir eine große Spritze in die Hand mit Morphin. „Spritzen Sie, Schwester Johanna, so viel, wie jeder braucht, damit er aufhört zu stöhnen. Spritzen Sie durch die Uniform, für alle mit der selben Spritze. Die sterben sowieso alle heute noch.“ Einen Patienten sollte ich in den Verbandsraum bringen, einen Mann mit schönen dunklen Locken. Als ich die Decke wegzog, sah ich, dass ihmbeide Arme fehlten. Dann sah ich, dass auch beide Beine fehlten. Er konnte sich nicht an mir festhalten. Er war ganz leicht zu tragen, nur Rumpf und Hals und Kopf. Aus den mit Papier umwickelten Stümpfen sickerte grüner Eiter. Ich war die einzige Nachtschwester für ein Stockwerk mit mehreren Klassenzimmern. Man sagte mir: „Den Arzt bitte nur bei starker Blutung wecken.“ Ich fragte: „Woran sieht man das?“ Da hieß es: „Mit der Taschenlampe unter der Liege, wenn das Blut durch die Matratze läuft. “In der Mittagspause im Schulgarten übten wir Schießen auf Apfelbäume. „Wenn der Russe kommt,“ hießes, „müssen wir unser Leben so teuer wie möglich verkaufen.“
Wo siehst du gerade als Ärztin eine besondere Verantwortung für den Frieden?
Ich habe mich als Ärztin immer bemüht, Menschen zu helfen. Im Krieg werden Menschen aber absichtlich verwundet und getötet. Ich lehne deswegen jegliche Kriegsvorbereitung und Rüstungsproduktion ab. In Zeiten von Atomwaffen gilt dies ganz besonders. 1957 trat ich in den „Kampfbund gegen Atomschäden“ ein. Später demonstrierte ich oft mit Ärzten der IPPNW und hielt das Schild hoch: „Wir werden euch nicht helfen können.“
Wie hast du versucht, mit Feindbildern umzugehen, zum Beispiel im Kalten Krieg?
Als wir einmal die militärische US Kommandozentrale EUCOM in Stuttgart umrundeten, ging der Generalsekretär des Internationalen Versöhnungsbundes neben mir und sagte: „Wenn aus potenziellen Feinden Freunde werden sollen müssen wir ihre Sprache sprechen.“ Daraufhin habe ich in der Volkshochschule Russisch gelernt. Jahrelang hatten wir immer wieder russische Gäste, und 1988 fuhr ich ganz allein nach Moskau und nahm auch Kontakt zur dortigen IPPNW auf. In Moskau kam ich in eine Synagoge und sprach mit einer Frau, die mir erzählte, dass sie im KZ Schreckliches erlebt hat. Sie umarmte michund wurde dann gefragt, wer ich denn sei. Sie antwortete: „Das ist meine Schwester.“
Hast du dich schon mal bei einer Sitzblockade von der Polizei wegtragen lassen?
Ja, zum Beispiel vor dem Atomwaffendepot in Mutlangen, zusammen mit Prominenten oder auch mit Kollegen, alle im weißen Arztkittel. Danach stand ich auch schon viele Male vor Gericht wegen angeblicher Nötigung.
An deinem Rollstuhl hängt das Schild „No to NATO“ und „Krieg stoppen! Keine Waffen!“ Wie reagieren die Leute?
Viele Passanten werden aufmerksam, und wir kommen ins Gespräch. Es sind dadurch sogar schon neue Freundschaften entstanden.
Du hast schon in den 1970ern gegen Atomkraft demonstriert, in den 1980ern gegen Atomraketen und neulich erst mit Fridays for Future. Was ist dein größtes Anliegen?
Für mich gehören diese Anliegen alle zusammen. Es geht mir um die Zukunft für meine Kinder, Enkel und Urenkel und um die Verantwortung für unsere Welt. Ich bin glücklich, dass meine ganze Familie sich ebenfalls für dieses Ziel engagiert.
Für die ZivilCourage sprach Rainer Schmid mit Johanna Grieger.