Die Rolle von KDV in der Friedensbewegung der 1980er Jahre
von Stefan Philipp
Die Pläne eines „neuen Wehrdienstes“, die beabsichtigte Etablierung einer umfassenden Dienstplicht für Männer und Frauen oder auch die diskutierte „Wiederbelebung“ der Wehrpflicht setzen ein altes Thema wieder auf die Tagesordnung: die Kriegsdienstverweigerung (KDV). Es lohnt deshalb der Blick zurück in die 1980er Jahre, in der die Zahl der KDVer stark anstieg und die KDV zum Massenphänomen wurde – und gleichzeitig die Friedensbewegung im massenhaften Protest gegen die Stationierung von US-Atomraketen ihre größte Stärke entwickelte. Wer heute – vielleicht neu – über KDV und KDV-Beratung nachdenkt und dabei Erfahrungen aus dieser Zeit mitberücksichtigen will, der sollte wissen:
- Im Auftrag der westlichen Besatzungsmächte hatte der Parlamentarische Rat 1948/49 das Grundgesetz (GG) erarbeitet. Mit seiner Verabschiedung und Inkraftsetzung war am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland entstanden. In den Grundrechtsteil der Verfassung hatte der Parlamentarische Rat diese (bis heute unveränderte) Garantie im Artikel 4 Absatz 3 formuliert: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“
- Bei den Beratungen hatte der spätere (erste) Bundespräsident Theodor Heuß (der als Reichstagsabgeordneter im März 1933 für das „Ermächtigungsgesetz“ gestimmt hatte, mit dem Hitler an die Macht gelangt war) vor der Aufnahme des KDV-Rechts ins Grundgesetz gewarnt und einen „Massenverschleiß der Gewissen“ befürchtet. Für die SPD-Fraktion hielt ihm (der 1937 vor den Nazis nach England geflohene antifaschistische Widerstandskämpfer) Fritz Eberhard entgegen: „Ich glaube, wir haben hinter uns einen Massenschlaf des Gewissens. In diesem Massenschlaf des Gewissens haben die Deutschen zu Millionen gesagt: Befehl ist Befehl und haben daraufhin getötet.“ Er und seine Fraktion erhofften sich von dem Grundrecht, das dann mit großer Mehrheit beschlossen wurde, „eine große pädagogische Wirkung“.
- Die Beschränkung der KDV auf Gewissensgründe wurde von Anfang v.a. von pazifistischen Organisationen kritisiert. Das „das Nähere regelnde“ Bundesgesetz sah und sieht vor, dass das KDV-Grundrecht nur auf Antrag und Prüfung der Gewissensgründe gewährt wird. Das Antragsverfahren ist bürokratisch ausgestaltet und hat(te) abschreckende Wirkung. Die betroffenen überwiegend gerade volljährig gewordenen jungen Männer waren gezwungen, ihre Entscheidung in mündlichen Prüfungsverfahren zu begründen („Inquisitionsverfahren“). Der Antrag hatte bis zur KDV-Neuregelung 1983 und der Umstellung auf ein in der Regel rein schriftliches Verfahren keine aufschiebende Wirkung mit der Folge, dass zahlreiche (noch) nicht anerkannte KDVer zur Bundeswehr eingezogen wurden und bis zur endgültigen Entscheidung über ihren Antrag als Soldat Dienst leisten mussten. Zahlreiche Verweigerer blieben konsequent bei ihrer Entscheidung und wurden deshalb beim Militär inhaftiert, manche wurden durch die Nicht-Anerkennung ihrer KDV und das erzwungene Soldat-Sein in den Suizid getrieben.
- Durch die Beschränkung der KDV auf Gewissensgründe und die Regelung, das Grundrecht lediglich auf Antrag und durch eine Prüfung zu gewähren, hat(te) es der Staat in der Hand, die Zahl der KDVer zu regeln, nach eigenen politischen Wünschen und nach dem Personalbedarf der Bundeswehr.
- Was im juristischen Sinn eine Gewissensentscheidung ist, hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 20. Dezember 1960 ausgeführt. Danach ist eine solche „jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von ,Gut‘ und ,Böse‘ orientierte Entscheidung (…), die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.
- 1955 wurde die Bundeswehr gegründet, 1956 die Wehrpflicht eingeführt, nach der Männer ab 18 Jahren zum Militärdienst einberufen werden können. Seit 1968 ist dies durch die Einfügung von Art. 12a GG verfassungsrechtlich geregelt. Anerkannte KDVer können zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Mit dem ab 1973 vom Gesetz als Zivildienst bezeichneten Ersatz leisten KDVer die Wehrpflicht ab und stützen damit das gesamte System der Zwangsrekrutierung für militärische und kriegsvorbereitende Zwecke. Deshalb gab es immer wieder auch Totale KDVer, die alle oder einzelne Auflagen aus der Wehrpflicht verweigerten und deshalb strafrechtlich verfolgt wurden.
- Der Personalumfang der Bundeswehr in den 1980er Jahren: Die Zielvorgabe für die Präsenzstärke der Bundeswehr war bis zur „friedlichen Revolution“ in der DDR und der Auflösung des „Ostblocks“ 1989/90 die Zahl von 495.000 Soldaten. Sie wurde in dem Jahrzehnt von 1980 bis 1989 durchgängig annähernd erreicht, sank jedenfalls nie unter 486.000 Soldaten. (Die Nationale Volksarmee der DDR umfasste im „Wendejahr“ ca. 155.000 Soldaten.)
- Die Geburtsjahrgänge in Westdeutschland ab 1962 (deren Männeranteil bei ca. 50 Prozent lag und der ab 1980 wehrpflichtig wurde) umfassten bis 1967 jeweils über eine Million und sanken bis 1971 auf knapp unter 800.000. (Die Geburtsjahrgänge, die bei einer möglichen Wiedereinsetzung der Wehrpflicht in den kommenden Jahren für eine Einberufung zur Bundeswehr in Frage kommen würden, umfassen im Durchschnitt der Jahre 2008 bis 2017 über 700.000; wenn das Grundgesetz nicht geändert würde und die Wehrpflicht weiterhin nur für Männer gelten würde, wären damit jährlich ca. 350.000 junge Männer betroffen.)
- Über die Jahre hinweg seit der Einführung der Wehrpflicht 1956 stieg der Zahl der KDVer kontinuierlich an. Im Jahr 1958 wurden 2.447 KDV-Anträge gestellt, 1967 waren es 5.963. Das Folgejahr 1968 brachte eine Verdoppelung auf 11.952, bis 1979 stieg die Zahl stetig an auf über 45.000. In den 1980er Jahren wurde die KDV zur Normalität in weiten Teilen der (männlichen) Jugend: Die Anzahl der gestellten KDV-Anträge stieg in den 1980er Jahren von ca. 54.000 (1980) auf ca. 77.000 (1989). (Lediglich im Jahr 1984 sank die Antragszahl wegen der Sondersituation der Neuregelegung des KDV-Anerkennungsverfahrens unter der 1983 gewählten neuen CDU/CSU/FDP-Bundesregierung einmalig unter 50.000.) Auf den Punkt gebracht: Wer gegen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung war, der verweigerte als Mann auch den Kriegsdienst bei der Bundeswehr – und wer KDVer wurde, der war auch gegen die Stationierung der US-Atomraketen in der BRD. Eine solche Positionierung führte bei vielen zum Engagement in der Friedensbewegung und wirkte meinungsbildend im persönlichen Umfeld.
- Möglich wurde diese Entwicklung v.a. dadurch, dass in den 1980er Jahren – und damit einer Zeit ohne Internet und der schnellen und leichten Verfügbarkeit von Informationen – fast flächendeckend KDV-Beratungsstellen entstanden waren und daneben zahlreiche Ratgeber in Buch- und Broschürenform publiziert wurden.
Was heute unter veränderten Rahmenbedingungen bleibt: Kriegsdienstverweigerung ist zuerst eine individuelle Entscheidung, die Inanspruchnahme des KDV-Rechts ist auch eine politische Frage, seine Durchsetzung v.a. eine juristische. Wer KDVer angemessen beraten will, der braucht: eine menschenrechtliche Orientierung, ein klares Bewusstsein für die Interessenslage der KDVer, eine empathische Beratungshaltung und dabei eine Klarheit für die eigenen Ziele sowie Sach- und Fachkompetenz.
Weiterführende Literatur:
– Michael Schmid: Grundrecht Kriegsdienstverweigerung – Wiederbewaffnung – Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht – Kriegsdienstverweigerung in der Praxis (https://www.kriegsdienstverweigerer-geschichten.de/hintergruende/texte/hintergrund-zur-wehrpflicht-in-der-brd/)
– Stefan Philipp: Zwangsdienst, Strafjustiz und Staat (in: Graswurzelrevolution; Nr. 433; November 2018; https://www.graswurzel.net/gwr/2018/10/zwangsdienst-strafjustiz-und-staat/)
– Norman Ciezki: Für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Einfluß und Bedeutung der „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V.“; Münster 1999
Stefan Philipp ist stellvertretender Vorsitzender des DFG-VK-Landesverbands Baden-Württemberg. Er war bis zu ihrer Auflösung nach Aussetzung der Wehrpflicht stellvertretender Vorsitzender der Zentralstelle KDV, der 1957 gegründeten gemeinsamen Einrichtung von zuletzt ca. 30 Organisationen.
Veröffentlicht in: FriedensForum – Zeitschrift der Friedensbewegung, Ausgabe 2/2025, S. 30 f.